Politik Inland

Aufarbeitung nach „Querdenken“-Demo in Leipzig gefordert

Demonstrationen

Sonntag, 8. November 2020 - 19:01 Uhr

von dpa

Tausende nahmen an der "Querdenken"-Demo in Leipzig teil. Foto: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa

Leipzig (dpa) - Viele Tausend „Querdenker“ demonstrieren inmitten der Pandemie in Leipzig. Trotz Verbots erzwingen sie einen Marsch über den Leipziger Ring. Die Polizei lässt sie ziehen. Jetzt wird der Ruf nach Aufarbeitung laut. Eine große „Querdenken“-Demonstration in Leipzig mit unzähligen Verstößen gegen Hygieneregeln hat im Bund und in Sachsen den Ruf nach Konsequenzen laut werden lassen. Am Samstag hatten im Zentrum der Stadt mindestens 20.000 Menschen gegen die Corona-Beschränkungen demonstriert.

90 Prozent der Teilnehmer trugen laut Polizei keine Masken. Am Abend erzwang die Masse einen Gang über den symbolträchtigen Leipziger Ring, obwohl ein Aufzug ausdrücklich nicht gestattet war. An einer Polizeisperre flog Pyrotechnik, und es gab Rangeleien. Zahlreiche Politiker warfen der Leipziger Polizei und dem sächsischen Innenminister am Sonntag Versagen vor.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) fand klare Worte. Keiner in der sächsischen Regierung und auch der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland habe Verständnis für diese Art von Demonstrationen, „für Leichtsinnigkeit und Hybris in einer Zeit, in der ein offener Blick zeigt, welche Gefahren das Virus hat.“ Zugleich kündigte er eine Aufarbeitung des Geschehens an.

Innenminister Roland Wöller (CDU) sprach von einem fatalen Signal. „Es ist mir unverständlich, dass mitten in einer sich verschärfenden Corona-Pandemie eine Versammlung von über 16.000 Teilnehmern in der Innenstadt von Leipzig genehmigt werden kann. Die Veranstalter und Teilnehmer haben schon im Vorfeld klar gemacht, dass sie keine Masken tragen und keinen Mindestabstand einhalten wollen.“ Bei solchen Teilnehmerzahlen sei eine wirksame Kontrolle durch die Polizei unmöglich. Eine gewaltsame Auflösung einer friedlichen Demonstration habe aber nicht zur Debatte gestanden.

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Bautzen hatte die Demonstration in der Innenstadt erst am Samstagmorgen erlaubt, auf 16.000 Teilnehmer begrenzt. Die Stadt hatte die Kundgebung wegen des Infektionsschutzes auf einen großen Messe-Parkplatz am Stadtrand verlegen wollen, das Verwaltungsgericht Leipzig hatte dies zunächst bestätigt. Die Begründung des OVG für die Zulassung steht noch aus.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) forderte eine „gründliche Aufklärung“. „Was wir gestern in Leipzig gesehen haben, ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Demonstrationsfreiheit ist keine Freiheit zur Gewalt und zur massiven Gefährdung anderer“, erklärte Lambrecht. Eine solche Situation inmitten der Pandemie dürfe sich nicht wiederholen. Tausende dicht an dicht ohne Masken seien ein Gipfel der Verantwortungslosigkeit und des Egoismus.

Linke, Grüne und SPD in Sachsen verlangten eine Aufarbeitung der Geschehnisse in einer Sondersitzung des Innenausschusses. „Ein offensichtliches Planungsdesaster hat dazu geführt, dass der Staat in Leipzig gegenüber Feinden der Demokratie kapituliert hat und weder das Versammlungsrecht durchsetzen noch Angriffen auf Gegenprotest, Journalistinnen und Journalisten sowie die Polizei wirksam begegnen konnte“, erklärte der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion Valentin Lippmann. Die Linken sprachen von „Staatsversagen“.

Der Leipziger Polizeipräsident Torsten Schultze verteidigte das Vorgehen der Polizei. Der Einsatz habe drei Ziele gehabt: die Gewährleistung eines friedlichen Verlaufs, die Verhinderung möglicher Gewalttaten und die Durchsetzung des Infektionsschutzes, sagte Schultze in einem Videostatement. Die ersten beiden Ziele seien weitgehend erreicht worden, das dritte Ziel nicht. „Man bekämpft eine Pandemie nicht mit polizeilichen Mitteln, sondern nur mit der Vernunft der Menschen“, fügte der Polizeipräsident hinzu.

Die Polizei sprach am Samstag von 20.000 Menschen auf dem Augustusplatz, die Initiative „Durchgezählt“ schätzte die Gesamtzahl der Teilnehmer sogar auf 45.000. Zunächst verlief die Kundgebung am Augustusplatz größtenteils friedlich. Wegen des Verstoßes gegen die Auflagen löste die Stadt Leipzig die Versammlung kurz vor 16.00 Uhr auf.

Faktisch blieben die Menschen aber einfach stehen, nur wenige verließen wie aufgefordert das Stadtzentrum. Die Masse verlangte, um den Ring zu ziehen, den Ort der Montagsdemonstrationen 1989. Gegen 18.00 Uhr ließ die Polizei die vielen Tausend Menschen dann laufen. Man habe die Masse über den Ring ziehen lassen, weil man sie nur unter Einsatz massiver Gewalt hätte zurückhalten können, sagte Polizeisprecher Olaf Hoppe.

Während die „Querdenker“ über den Ring liefen, griffen Unbekannte in Leipzig-Connewitz die Polizei an. Die Scheiben eines Polizeipostens wurden mit Steinen beworfen. Später wurden Barrikaden angezündet. Die Polizei rückte mit Wasserwerfern und zahlreichen Kräften an. Schon am Freitagabend hatten Vermummte die Polizei in dem als linksalternativ geltenden Stadtteil angegriffen.

Die Leipziger Polizei bilanzierte für sämtliche Einsätze 102 Straftaten mit 89 Beschuldigten, darunter Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Es habe 13 vorläufige Festnahmen und 18 Ingewahrsamnahmen gegeben. Zudem seien 140 Ordnungswidrigkeiten wegen Verstoßes gegen die Coronaschutzverordnung und das Versammlungsrecht erfasst worden.