Kultur

Der deutsche „Flickenteppich“ - Fluch oder Vorbild?

Sonntag, 18. Oktober 2020 - 16:15 Uhr

von Von Christoph Driessen, dpa

Ein in Bangladesch produzierter Flickenteppich. Derzeit wird wieder viel über den deutschen „Flickenteppich“ geklagt. Foto: Roland Weihrauch/dpa

Berlin/Münster (dpa) - Ist der deutsche Föderalismus in der Corona-Krise schädlich? Was jetzt als „Flickenteppich“ geschmäht wird, bewunderte ein französischer Aufklärer schon 1748 als die „föderative Republik Deutschland“. Derzeit wird wieder viel über den deutschen „Flickenteppich“ geklagt. Die starke Eigenständigkeit der 16 Bundesländer führe in der Corona-Pandemie zu einem undurchdringlichen Wust von Regeln, heißt es. Eine Abstimmung werde durch die deutsche „Kleinstaaterei“ verhindert oder zumindest erschwert - wie die zähen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern im Kanzleramt immer wieder zeigten.

Die Klage über den deutschen Föderalismus ist sehr alt. „Die Abweichungen dieses Landes sind so groß, dass man nicht weiß, wie man so verschiedene Religionen, Regierungsformen, Klimata, ja Völker unter einen und denselben Gesichtspunkt bringen soll“, schrieb 1813 zur Zeit Goethes die französische Schriftstellerin Germaine de Staël in ihrem internationalen Bestseller „De l'Allemagne“ (Über Deutschland). In diesem Land fehle es an einem echten Machtzentrum, analysierte sie.

Noch nicht einmal auf einen einheitlichen Fluch könnten sich die Deutschen einigen, bemerkte der Publizist Carl Julius Weber (1767-1832): In Schwaben sei es „Potzblitz“, in Bayern „Sauschwanz“ und in Preußen „Gott straf mir“.

Viele werden sich noch an eine Karte erinnern, die in so ziemlich jedem Schulgeschichtsbuch steht: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als vielfarbiges Sammelsurium von Königreichen, Herzogtümern, Grafschaften und irrwitzigen Mini-Territorien im Stil von Lummerland, regiert von König Alfons dem Viertelvorzwölften. Ein „Flickenteppich“ eben.

Der Historiker Jürgen Overhoff hat dazu geforscht und sieht die Dinge etwas anders. „Diese Karten gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert“, hat der Münsteraner Professor herausgefunden. „Es gab zum Beispiel ein wichtiges Schulbuch aus dem Jahr 1774, und das zeigt einfach "Deutschland" mit seinen Außengrenzen. Fertig.“ Das Reich sei von den Zeitgenossen als vollwertiger Staat betrachtet worden, nicht als kleinteilig-defizitär.

Das soll nicht heißen, dass die vielen Einzelstaaten mit eigenen Souveränitätsrechten nicht existiert hätten. Aber sie waren eben doch miteinander verbunden, sie kooperierten auf dem Reichstag in Regensburg. „Dort hat man vereinfacht gesagt eine Mischung aus Bundestag und Bundesrat gehabt. Da haben sich die deutschen Länder getroffen und Absprachen gemacht“, erläutert Overhoff.

Der französische Staatstheoretiker und Aufklärer Baron de Montesquieu beschrieb dieses Gebilde 1748 anerkennend als „République fédérative d'Allemagne“, die föderative Republik Deutschland. Ihn beeindruckte vor allem die so erzielte Aufteilung der Macht: In Frankreich hingegen besaß der König die absolute Herrschaftsgewalt.

Die Architekten der amerikanischen Verfassung, Benjamin Franklin und James Madison, hätten sich ebenfalls ausdrücklich auf das deutsche Modell bezogen, sagt Overhoff, der selbst die Akten dazu in Philadelphia ausgewertet hat. Die US-Staaten entstanden zunächst als selbstständige Einheiten und schlossen sich erst im Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmacht Großbritannien zusammen. „Und wohin schauten sie da? Auf die drei Nationen, die im 18. Jahrhundert schon föderal organisiert waren: die Schweiz, die Niederlande - und Deutschland.“

Der spätere vierte US-Präsident James Madison ging daran, die Verfassung „in Analogie“ zur deutschen Reichsverfassung zu entwerfen. So verglich er 1787 die Kompetenzen des Präsidenten mit denen des deutschen Kaisers. Jefferson bereiste unterdessen das Rheinland, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Er pries das „bemerkenswert gute Brot“ und den „gefeierten Schinken“ - und schrieb an George Washington, die „Freiheiten des deutschen Staatskörpers“ würden durch das föderale System gewährleistet. Allerdings müssten in der US-Verfassung die demokratischen Elemente noch stärker ausgearbeitet werden.

Der abwertende Begriff „Flickenteppich“ und die berühmte Karte mit dem in zahllose Farbfleckchen zerfallenen Deutschland kamen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf: Damals schmiedete Otto von Bismarck das von Preußen dominierte Kaiserreich - und musste dafür den bisherigen Zustand als „das pure Grauen“ diskreditieren, wie Overhoff formuliert: „"Flickenteppich" ist ein politischer Kampfbegriff.“

Dass das Wort derzeit so oft verwendet wird, betrachtet Overhoff als unfaires Föderalismus-Bashing. „Wenn dieser Ruf nach Einheitlichkeit erklingt, höre ich da immer heraus: Hier soll ein Einziger das Zepter schwingen, von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen. Hier soll durchregiert werden. Dabei sind wir immer gut gefahren mit kleineren Einheiten - auch wenn das manchmal mühsam ist.“